Entlang des Maines

Was wächst am Main? Bier und Wein!

Lumpenpack


Schnöff, schnöff, schnöff, die Eisenbahn ... Den letzten Sprung getan, und wieder sitzen die Rauhbeine auf einem ruckelnden Fahrgestell, das sie weiterzutragen bereit ist. Nach Süden nun sich lenken die rastlosen Blicke aus tiefen Augenhöhlen, nach Franken und zum Main, jenem fröhlichen Flüßchen, an dessen weichen Ufern die Reben sich ranken sollen wie paradeisische Gewächse. So denn, mag kommen, was da wolle, aber eine Wohlfahrt wird es gewiß! Wo die süßen Trauben gedeihen, dort sprudelt auch die herrliche Freude! Wo die Landschaft lieblich, da sind es die Leut ebenso! Wo strahlende Sonne graue Wolken lichtet, dorten lacht auch das bekümmertste Herz!

Doch nein, die dicke Schaffnerin ist ihnen dicht auf den Fersen. Eine Fahrkarte hatten sie selbst in der engen Bahnhofsmission ergattern nicht können, obwohl artig sie ihren Tee getrunken auf der zerkratzten Ablaßbank und einen freundlichen Eindruck hinterlassen. Das bedeutet ihnen, itzo die Flucht antreten nach vornheraus, die Waggontür aufreißen mit einem wuchtigen Schlage und vor einem großen Pulk allerlei zusammengelaufenen Volks rufen: "Frau Schaffnerin, haben sie Mitleid mit uns armen Wandergesellen, die Ihnen ein frohes Lied singen, um hierfür einen Fahrschein zu erhalten." Doch nein, das nimmer zu Erwartende tritt ein in Gestalt eines schnippischen Befehles: "Ihr müßt die Fahrkarte bezahlen, 30 Geldstücke kostet diese. Singt doch vor den Leuten, will mal sehen, ob das reicht."

Da hilft nichts, kein Reißaus nehmen, kein Fersengeld löhnen; die ausgedörrten Kehlen müssen ihre leidige Arbeit tun. Und so trällern die verlotterten Brüder zum schunkelnden und ratternden Gleichklang der Eisenbahn ein bewährtes Lied getrost, das da berichtet von Halunken, welche durch's Land streichen, ohne Gold im Säckel, aber dennoch voller Aberlitz; von Banditen, die schnorren und doch nicht sind arge Bettelleut, weil sie sich geben dem Volke in dessen Obhut und ihm zu leisten vermögen, was verloren geglaubt und dennoch schlummert in so vielen Seelen; von Monarchen, die königliche Herrscher sind nicht nur der staubigen Landstraße, sondern all jener Geschicke, die sie selbst in die furchtlose Hand zu nehmen gewillet.

Der letzte Ton verklingt, es braust ein Hurra! durch den fahrenden Saal. Die Gesellen sammeln ihre Dukaten und besolden sich ab auf Heller und Pfennig bei der Oberstin trübsinniger Bahnsteige, deren Rufname gewißlich auf Pfeffersack lautet.

Der zerbrochene Krug. Veitshöchheim ist leergefressen, die Lumpenbruder labten sich bereits in einem Gasthaus am Ufer des Maines an Rinderbraten in Meerettichtunke. Nun wird noch die fröhliche Freude gesucht, nämlich ein passendes Wirtshaus mit Wein, Weib und Gesang, wobei den Gesang zu stiften freilich unsere Arbeit gewesen wäre. Doch hierfür verweigert sich das Nest, für welches uns vorher schon zur Warnung geraten, daß hier der Spießer hause.

So eröffnete ein Keller namens Spundloch nach Eintritt nur fauligen Gestank und einen zerknirschten Krauter; das Loch hätte besser Stunkloch geheißen. So schnell, wie wir drinnen, waren wir auch wieder heraus. Doch die feine Spürnase der Lumpenhunde erschnüffelt neue Wege: Gleich einige Straßenecken weiter harrt eine feine Lokalität, die uns wenigstens am Weine kosten läßt. Die Gäste bleiben auch trotz eines fröhlichen Liedes bitterernst, eine Frau mit russischem Zungenschlag zieht beim Anblick der verwegenen Barden ihre Handtasche an sich. "Wo man singt, da laß Dich ruhig nieder ..." Wir jedoch suchen ob der stummen Gesellschaft alsbald das Weite.

Die Eisenbahn fährt heute noch nach Thüngersheim. Neues Nest, neues Glück! Es wird aufgesattelt im Dunkel, heimlich nimmt der ratternde Eisenkoloß zwei schemenhafte Gesellen mit auf seinen Gleisbahnen. Im erreichten Orte ist es noch finsterer, wir tasten uns an Mauern entlang, bis die Tür zu einer Spelunke aufspringt. Darin hängt lau die Fahne der amerikanischen Nordstaaten, ein Cowboy kippt sich den letzten Whisky hinter die Binde, unsichtbaren Gästen einer abseitigen Gaststube werden aufgeschnittene Weißbrotlaiber dargereicht, zwischen welche riesige Bratklopse geklemmt sind. "Heute besonders fette Hamburger", steht auf einem schmierigen Blatt. Menschenfresser? O Cannibalo, Gott der Knochensammler, wir müssen schleunigst von hinnen, bevor hier "zäher Lumpenhund" auf dem Speiseplan steht.

Des Wirtes Sohn ruft uns noch zu, daß hier im Dorfe alles in tiefstem Dornröschenschlafe läge und wir uns keine Hoffnung machen brauchten, aber dennoch, die Hoffnung läßt sich nicht morden. Und siehe: Im Gasthof Zum Bären harrt eine sangeslustige Gesellschaft, der Wirt klatscht sich vor Freude die Schenkel und kredenzt Mahl und Rebensaft. So darf man sich den Ausklang eines schweren Tages gefallen lassen! Einer der Gäste erbarmt sich unser als Penneboos und bietet ein Nachtlager mitsammet umfänglichem Frühstücke, uns dabei aus ehrlichstem Mitgefühl die Flasche des guten Weines ersetzend, welche in der Geschäftigkeit des Bettenmachens leidvoll zerbrochen.

Türgespräche. Aber ach, ihnen vergehen die Zeitläufte! Um wieviel Jahre ist es her, als die Lumpenbrüder in der Pfalz von Kerwe zu Kerwe wallfahrten, als sie den Moselwein studiereten oder auch den Räucherfisch aus Pommern? Als sie weiland im Erzgebirge bei 25 Grad Kälte eine Nacht im Freien durchzitterten oder sich in der Reichsstadt Cochem von bissiger Ungezieferplage befreiten? Sie wissen nie, was der nächste Tag bringt, und auch nicht die nächste Nacht, denn sie müssen fürbaß weiter. Ob nun ein Obdachlosenheim, des Pfarrers Gesindestube, ein feines Hotelzimmer, eine stille Mädchenkammer oder Mutters Grün - sintemalen auch die dunkelste Nacht zu durchleben und durchleiden gilt!

Itzo sie stolzieren durch Hammelburg in Unterfranken, wohl die älteste Weinstadt Deutschlands. Das Weinen ist ihnen auch zum Muthe, denn die Wirtshäuser haben Ruhe und der graue Tag neigt sich gen Abend. Beim Pfaffen zu fragen, ist darob ein leichtes Unterfangen. Den Bart gestrichen, den Hut geradegerückt, so mag sie die selige Geistlichkeit freudig empfangen, nachdem die Klingel betätigt wird. Daraufhin aber nur ein Türloch ächzt, in das Stapfi geistesgegenwärtig brüllt: "Herr Pfarrer, ob Sie wohl für zwei Lumpenbrüder ein Nachtlager hätten?" - Augenblicke der Hoffnung... - "Tut mir leid", schnurrt die Tür blechern, "aber unsere Polizei hat für Sie genau das Richtige." - "Wie meinen?" - "Ein Asyl für Obdachlose." - "Danke!", und flugs sind die Vagabunden auf dem Weg zum Teckel. Dessen Palast erinnert an unwirtliche Kerkermauern. Und wieder ist es nur ein Türloch, mit dem Außenstehende zu reden haben: "Herr Teckel, ob Sie wohl für zwei Tagediebe ein Nachtlager hätten? Der Pfaff verweist uns an Sie!" - Die Tür knistert und klackert, dann antwortet sie: "Tut mir leid, aber das Obdachlosenasyl ist schon seit Monaten geschlossen." - "Und wenn wir bei Ihnen die Scheiben einwerfen, bekommen wir dann ein Nachtlager?" - "Nein, schert euch weg!"

Solch unfreundliche Türen waren ihnen noch nie begegnet!

Lebenslustig. Trostlos ist es in Arnstein, das für sein Bier bekannt. Trostlos ist es auch in den Mägen der Lumpenbrüder, hohl klingen sie und fordern murrend etwas Labsal. Doch viel bietet das Kaff nicht. Beim Brückbäck erhalten sie eine anständiges Mahl, und so dieser Plage entledigt, wagen sie, der Frau Wirtin noch andere Dinge an ihr Herz zu legen: Es regnet doch in Bälde, und wo es denn ein trockenes Nachtlager gäbe. Nein, da wüßte sie nichts.

Aber ein Gast erbarmt sich. Ja, er kenne da einige lustige Italiener, und überhaupt seien die ganz lebensfroh, und die Frau des einen käme gar aus unserer Heimat. So brechen wir bald auf, denn der Weg ist lang und dunkel, tasten uns durch eine nächtliche Parklandschaft, vorbei an Maisfeldern, in denen, so weiß unser Wegwart zu berichten, sich oft schon die Jugend nach ihren Tanztreffen vergnügte, hin zu einer speckigen Spelunke. Die einzigen Gäste sind die besagten Italiener, die gebannt auf ein Fußballspiel in ihrer Glotze gaffen. Redselig bemüht sich unser Reiseleiter, zarte Bande zu knüpfen "Heike, die sind auch aus Sachsen!" Die dicke Heike, bärbeißig und ohne aufzublicken "No und?" Die ganze Familia starrt mit offenen Mäulern auf den Flimmerkasten. Widerwillig wird uns ein Bier bereitet, das unser Führer spendiert, widerwillig wird es schnellstens getrunken, um aus jenem Laden schnellstmöglich herauszukommen, den wir ohne Zwang niemals hätten betreten wollen. Zügig ergreifen wir die Flucht, unbemerkt, denn die vorgeblich Lebenslustigen starren wie aufgeblasene Mumien zu ihrem Unterhaltungsapparat. Die Lumpenbrüder finden ein geräumiges Bierzelt mit Bierbänken und Kissen, welche zu ordentlichen Betten gebaut werden, und hinterlassen am nächsten Morgen den unfreiwilligen Herbergsvätern vier volle Flaschen jenes Arnsteiner Bieres, welche ihnen am Tage vorher Straßenrande zugesteckt wurden.